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Die Bedeutung des Kreuzes Jesu Christi

 

Diesen Abschnitt erachte ich als einen der wichtigsten auf meiner ganzen Homepage. Insbesondere im ersten Teil mit der Überschrift "Der Beweis" werde ich den Gedankengang ausführen, welcher für mich das Evangelium von der Liebe Gottes aufgeschlossen hat. 

 

Als Jesus das Gleichnis vom Sämann für seine Jünger auslegte, sagte er: "Wenn jemand das Wort von dem Reich hört und nicht versteht, so kommt der Arge und reisst hinweg, was da gesät ist in sein Herz... Das aber in das gute Land gesät ist, das ist, wenn jemand das Wort hört und versteht es und dann auch Frucht bringt..." (Matth. 13,19+23). Der Liebesbeweis Gottes ist aber nicht kompliziert sondern so einfach, dass er von jedem Kind verstanden werden kann.  

 

Im folgenden werde ich zuerst den Gedanken erklären, welcher für mich zum Fundament des Vertrauens auf Gottes Gnade wurde. Dieses Verständnis habe ich von Martin Luthers Schrift "Von den guten Werken" (1520) gelernt. Danach werde ich etwas tiefer über die Bedeutung des Kreuzes und Sterbens Jesu nachdenken. Dabei gilt es zuerst, mit einer weit verbreiteten Fehlvorstellung aufzuräumen. Schliesslich lege ich meine gegenwärtige Sicht auf die Bedeutung Golgathas dar. Inspiriert wurde ich von N.T. Wrights Buch "The Day The Revolution Began" und von Tobias Henningers Homepage und Buch "Was ist Erlösung? Ein befreiender Entwurf", aber meine Schlussfolgerungen ähneln am meisten den Erklärungen von Klaus Berger

 

Der Beweis

 

Wir sollen gerecht werden "durch den Glauben" (Röm. 3,28, Röm. 5,1). Aber was bedeutet das? Bedeutet es, dass man plötzlich ein herrliches "Heilserlebnis" hat, und auf übernatürliche Weise die Gewissheit bekommt, dass man gerettet ist? Ich meine nicht. "Glauben" heisst, auf Gottes Güte vertrauen. Es ist das Gegenteil des Sündenfalls, als Adam und Eva gegenüber Gott misstrauisch wurden. Luther schreibt in seiner Vorrede zum Römerbrief: "Glaube ist eine lebendige, verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade, so gewiss, dass er tausend Mal drüber stürbe." 

 

Die Frage ist nun, wie der Mensch zu solchem Vertrauen auf Gottes Gnade kommt. Wenn schon Adam und Eva vor dem Sündenfall sich zum Misstrauen gegen Gott verführen liessen, wie sollen wir davon überzeugt werden, dass Gott gnädig und freundlich ist? Antwort: Gott beweist seine Liebe zu uns durch das Sterben Jesu. So steht es fast wörtlich in Röm. 5,8: "Darum preist Gott seine Liebe gegen uns, dass Christus für uns gestorben ist, da wir noch Sünder waren." Ähnliche Aussagen machen Joh. 3,16, Joh. 12,32, Röm. 8,31-32, 1. Joh. 3,16 oder 1. Joh. 4,9. Wir dürfen Gottes Liebesbeweis verstehen und uns darauf verlassen! Und man muss dazu nicht auf ein "Heilserlebnis" warten. Anfangen auf Gottes Gnade zu vertrauen sollte man besser heute als morgen. 

 

Es war das folgende Zitat aus Luthers Schrift "Von den guten Werken" (1520), durch welches ich anfing, das Evangelium zu verstehen:

 

"Fragst du aber, wo der Glaube und die Zuversicht gefunden werden können oder wo sie herkommen, so ist das tatsächlich am nötigsten zu wissen. Erstens kommt er ohne Zweifel nicht aus deinen Werken noch deinen Verdiensten, sondern allein aus Jesus Christus, umsonst versprochen und gehalten, wie Paulus im Römerbrief, Kap. 5 (Vers 8) sagt: 'Gott macht uns seine Liebe sehr süss und freundlich dadurch, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren', als wolle er sagen: Sollte das nicht eine starke, unüberwindliche Zuversicht bewirken, dass Christus, ehe wir darum gebeten oder gesorgt haben, ja ganz und gar noch in Sünden befangen waren, für diese unsere Sünden starb? ... Siehe, so musst du dir Christus einprägen und sehen, wie Gott dir in ihm seine Barmherzigkeit zeigt und anbietet, ohne alle vorausgehende Verdienste deinerseits, und aus diesem Bild seiner Gnade den Glauben und die Zuversicht zur Vergebung aller deiner Sünden schöpfen." (Hervorhebung durch mich)

 

Um Zuversicht zu fassen, dass es Gott gut mit uns meint, genügt meines Erachtens das Wissen, dass Er uns seine Liebe durch Jesu Sterben beweist. Gott gibt seinen Sohn für uns dahin, wie könnte Er es nicht gut mit uns meinen? Jesus gibt sein Leben für uns, wie könnte er uns nicht helfen wollen? Genau diese Logik bringt Paulus in Röm. 8,31-32 zum Ausdruck: "Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? Welcher auch seines eigenen Sohnes nicht hat verschonet, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?" Ich gebe aber zu, dass wir mit diesem Wissen die Bedeutung Golgathas noch nicht in der Tiefe verstehen. Warum genau ist Jesus gestorben? Was hat sein Tod bewirkt? Darüber möchte ich in den folgenden Abschnitten nachdenken. Ich muss dazu aber vorausschicken: Alles bisher gesagte behält auch dann Gültigkeit, wenn man mit den folgenden Ausführungen nicht einverstanden sein sollte. Und meine Gedanken sind auch nicht als abschliessend oder erschöpfend zu verstehen, sondern als Versuch, Golgatha besser zu verstehen. Überhaupt glaube ich, dass man niemals die ganze Tiefe des Kreuzes Christi verstehen kann. 

 

Fehlvorstellung

 

Die folgende (Fehl)vorstellung ist in der Christenheit weit verbreitet: "Aufgrund der Sünde verdient der Mensch als Strafe die ewige Höllenqual. Jesus hat am Kreuz an unserer Stelle Gottes Zorn getragen." 

 

Es gibt ein Zitat, das Theodor Weissenborn zugeschrieben wird: "Seit er meinen Bruder kreuzigen liess, um sich mit mir zu versöhnen, weiss ich, was ich von meinem Vater zu halten habe." Ich glaube, dass die obige Fehlvorstellung zu solch absurden Karikaturen bezüglich der Bedeutung des Kreuzes Jesu Christi führt. Als Christen sollten wir uns solchen Zitaten stellen und nicht einfach die Augen davor verschliessen, dass die biblische Botschaft von Gottes Liebe so falsch verstanden wird. 

 

N.T. Wright hat es in etwa so ausgeführt: Im Gegensatz zur berühmten Bibelstelle "Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab..." (Joh. 3,16) verstehen viele Christen die Bedeutung des Kreuzes so: "Also hat Gott die Welt gehasst, dass er seinen eingeborenen Sohn tötete..."

Ich habe hier schon ausgeführt, dass das Konzept der ewigen Höllenqual unbiblisch ist. Auch das römisch-europäische Konzept von Gerechtigkeit und Strafe kann man in der Bibel nicht finden. Damit ist schon einmal klar, dass die Vorstellung, Jesus habe "Gottes Zorn getragen", irgendwie nicht zum biblischen Narrativ passt. (Zwischenbemerkung: Wenn Jesus Gott selber wäre, dann hätte er gewissermassen seinen eigenen Zorn getragen, was irgendwie seltsam ist.) Sowieso stellt sich bezüglich Gottes "Zorn" die Frage: Was meint Paulus in Röm. 5,9, wenn er davon spricht, dass Jesus uns vor dem (zukünftigen!) Zorn retten wird? Ist es nicht bedeutsam, dass Paulus deutlich zwischen der Versöhnung durch den Tod Jesu und dem "selig werden durch sein Leben" (Vers 10) unterscheidet?

Wenn man nach den Ursprüngen der Vorstellung, "Jesus habe an unserer Stelle Gottes Zorn getragen", sucht, dann stösst man auf Anselm von Canterbury (1033 - 1109 n.Chr.). Er entwickelte die sogenannte Satisfaktionslehre: Gottes Zorn musste durch das stellvertretende Leiden Christi "befriedigt" werden. Als Sünder ist der Mensch bei Gott sozusagen verschuldet. Gott ist heilig und gerecht, Er kann die Sünde nicht ungestraft vergeben. Jemand muss die Schuld bezahlen, jemand muss die Strafe tragen. Jesus Christus, der Sohn Gottes, hat unseren Platz eingenommen und die Schuld durch sein Leiden und seinen Tod bezahlt. Auf Golgatha hat sich Gottes Zorn über Jesus ergossen. So wurde Gottes Zorn gestillt, und Er kann jetzt jedem vergeben, der an den Sühnetod Christi glaubt.

 

Ich bezweifle, dass sich diese weit verbreitete Vorstellung vom Vorwurf befreien kann, dass der hier dargestellte Gott dem heidnischen Gott Moloch ähnelt, der nur durch ein Menschenopfer besänftigt werden kann. Das Thema, um das es hier geht, ist also von höchster Brisanz: Welches Gottesbild haben wir eigentlich? Wie passt dieses Bild zum Wesen des Vaters im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Luk. 15,11-32)? 

 

Ich möchte ein paar weitere Probleme mit der Anselm'schen Satisfaktionslehre aufzählen. Erstens hat in diesem Modell Gott ein Problem, und nicht nur der Mensch. Gott möchte schon gern vergeben, aber weil Er gerecht ist, kann Er es ohne Bestrafung nicht tun. Aber sollte Gott etwas nicht können? Als Christen sind wir aufgefordert, unseren Mitmenschen ohne Gegenleistung frei zu vergeben, aber Gott sollte dies nicht tun können?

 

Zweitens ist es eine berechtigte Frage, warum Gott ohne Bestrafung nicht vergeben kann. Es ist durchaus nicht korrekt, dass Gott im alten Testament ohne Tieropfer nicht vergeben konnte. Wenn man Psalm 51 genau betrachtet, dann ist es sogar genau umgekehrt: "Denn du hast nicht Lust zum Opfer - ich wollte dir's sonst wohl geben - und Brandopfer gefallen dir nicht..." (Vers 18). Und in Ps. 32,5 lesen wir: "Ich sprach: Ich will dem Herrn meine Übertretungen bekennen. Da vergabst du mir die Missetat meiner Sünde." Und im Gleichnis Jesu vom "Schalksknecht" vergibt der König dem Schuldner ohne dass jemand an dessen Stelle die Schuld bezahlt (Matth. 18,27).  

 

Drittens ist der Begriff "Vergebung" irreführend wenn man behauptet, Gott könne ohne Bezahlung der Schuld nicht vergeben. Wenn Gott erst nach der Bezahlung durch Jesu Tod Sünden vergeben kann, dann ist es im eigentlichen Sinn kein "Schuldenerlass", sondern eher eine "Transaktion". Dann könnte man höchstens sagen, dass Jesus unsere Sünden vergeben oder bezahlt hat, aber Gott selber hätte keine Sünden vergeben.

 

Viertens muss man sich fragen, wie Jesus nach seinem Tod rechtmässig auferweckt werden konnte. Wenn er unsere Schuld auf sich genommen hatte und folgerichtig unter den Machtanspruch des Todes geriet, wie ist er die Schuld nach seinem Tod wieder losgeworden, sodass ihn der Tod wieder losgeben musste? Es gilt hier zu bedenken, dass der Tod keine Vergebung der Sünde bewirkt. Der Tod ist die Konsequenz der Sünde (Röm. 6,23), er ist nicht die Ursache für Vergebung. Sollte der Tod einen verstorbenen Sünder wieder losgeben, nur weil dieser gestorben war? Das wäre unsinnig, dann wäre der Tod gerade nicht der Lohn der Sünde. 

 

Fünftens wurde Jesus nicht von Gott gekreuzigt, sondern von Menschen. Es hat nicht Feuer und Schwefel vom Himmel auf Jesus herab geregnet, sondern die Menschen sind am Sohn Gottes schuldig geworden. In der Passionsgeschichte kann sich die gesamte Menschheit wieder finden: Die einen haben Jesus feige verlassen und verleugnet, andere haben ihn angeklagt, wieder ein anderer hat ihn verraten, der politische Machthaber hat ihn verurteilt, und Soldaten haben die Kreuzigung ausgeführt.  

 

Und schliesslich: Vielen Menschen ist die Problematik bewusst, die sich aus dem "stellvertretenden" Leiden Christi ergibt: Was für ein "gerechter" Gott soll das eigentlich sein, der eine Strafe von jemand anderem abbüssen lässt? Die naheliegende Antwort für Trinitarier und andere Christen, die an die Gottheit Jesu glauben, ist folgende: Gott hat nicht jemand anderen die Strafe abbüssen lassen, sondern ist in seiner Liebe selber Mensch geworden, und hat die Strafe getragen. Aber mit dieser Erklärung gibt es mindestens ein grosses Problem: Gott kann gar nicht sterben, Er ist in jedem Fall unsterblich! Jesus aber war sterblich. 

 

Drei Thesen

Ich stelle im folgenden drei Thesen auf. Da es sich um Thesen handelt, werde ich nicht versuchen, sie mit der Heiligen Schrift zu beweisen. Jeder Leser kann sich selber überlegen, ob er den Thesen zustimmt oder nicht. In jedem Fall kann man sie als Gedankenanstoss verstehen. 

 

Erste These: Gott vergibt ganz grundsätzlich bedingungslos. Er hat keine Gegenleistung nötig, um vergeben zu können.

 

Zweite These: Am Kreuz ging es überhaupt nicht um die Bezahlung einer von Gott eingeforderten Schuld.  

Dritte These: Gott hat uns nicht vergeben, weil wir Jesus gekreuzigt haben, sondern obwohl wir ihn gekreuzigt haben. 

 

Bedeutung von Kreuz und Auferstehung

 

Mein Ausgangspunkt ist folgender: Bei der Erlösung durch Jesus Christus am Kreuz geht es um die Lösung eines Problems. Dieses Problem betrifft ausschliesslich die Menschheit, und in keiner Weise Gott. Bevor wir verstehen können, was auf Golgatha geschah, müssen wir das Problem verstehen, das gelöst werden musste. 

 

Das Problem der Menschheit ist die Sünde. Dabei geht es aber nicht um eine "Verschuldung" ähnlich einer Geldschuld, die zurückbezahlt werden muss. Vielmehr ist die Sünde ein Defekt, eine Art Krankheit. Im Kern ist es das Misstrauen gegenüber Gott, und gleichzeitig die Rebellion gegen Gott. Der Mensch sollte eigentlich als Geschöpf Gottes im vollständigen Vertrauen auf Gottes Güte leben. Aber in der Erzählung vom Sündenfall wird uns berichtet, dass der Mensch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ass (1. Mose 3,6). Der Mensch wollte selber erkennen und die Kontrolle darüber haben, was für ihn "gut" und "böse" ist. Er wollte sein wie Gott (1. Mose 3,5). Damit fällt der Mensch aus seiner Rolle als Geschöpf Gottes heraus. Die logische Konsequenz ist die Trennung von Gott, der Quelle des Lebens (Jer. 2,13), und damit ein von Gott verlassener Tod. Der Defekt der Sünde sitzt so tief, dass es auch nichts nützt, wenn sich Gott den Menschen zuwendet, weil der Mensch dann von Gott davonläuft und sich versteckt (1. Mose 3,8). Die Sünde bewirkt also ganz automatisch die Trennung von Gott, ohne dass dieser dazu ein künstliches Gerichtsurteil sprechen müsste. 

 

Was ist also zu tun? Ein paar Möglichkeiten: Gott könnte die Menschen einfach sterben lassen, und dann eine neue Menschheit erschaffen. Aber Gott wollte uns nicht aufgeben. Vielleicht könnte Gott die Menschen zwar sterben lassen, dann aber die Toten wieder auferwecken? Ja, das wäre sicher möglich, aber das Problem wäre damit nicht behoben. Das Wesen der Menschen hätte sich im Kern nicht verändert. 

 

Und was geschieht, wenn Gott die Sünde vergibt, also die Verfehlungen nicht anrechnet? Tatsächlich hat Er das schon immer getan. Auch im alten Testament hat Gott Sünden ohne Gegenleistung vergeben, wenn man Ihn darum bat (Ps. 32,5, Ps. 103,3). Aber immer noch hat sich das Wesen der Menschen nicht verändert. Auch wenn ihnen vergeben wird, fahren sie fort, zu sündigen. Die Macht der Sünde ist nicht gebrochen, die Menschen bleiben unter der Knechtschaft der Sünde (Röm. 7,15-24). 

 

Als naheliegende Lösung bietet sich an, den ungerecht handelnden Menschen ein Gesetz zu geben, an welches sie sich halten müssen, um bessere Menschen und Gott wohlgefällig zu werden. Fehlanzeige! Jetzt wird es noch schlimmer: Der Mensch begreift Gott so als strengen Herrn und Richter, welcher die Übertretungen des Gesetzes ahnden muss. Die Gebote des Gesetzes haben zwar einen guten Inhalt, aber der Mensch wird durch sie aufgrund der Sünde in noch grössere Feindschaft gegen Gott getrieben (Röm. 3,20, Röm. 4,15, Röm. 7,7-12). 

 

Es bleibt nur ein Weg: Gott muss die Herzen der Menschen gewinnen! Die Frage ist: Wie kann Er das bewerkstelligen? Ich glaube, dass uns die Bibel als Antwort die folgende Geschichte erzählt: Gottes Sohn, der Mensch Jesus Christus, wird von der Jungfrau Maria geboren. Er ist ganz ohne Sünde, lebt also im vollständigen Vertrauen auf Gottes Güte. Und er lebt ganz gemäss dem Willen Gottes, in vollkommener Gerechtigkeit. Er ist barmherzig und hilfsbereit, nimmt sich der Elenden und Verlassenen an, und erzählt von einem Gott, der als liebender Vater ohne Gegenleistung jedem vergeben und jeden annehmen möchte (Luk. 15,11-32). Die interessante Frage ist nun: Wie werden die Menschen auf den Sohn Gottes und seine Gerechtigkeit und Unschuld reagieren? 

 

Jetzt offenbart sich die Sünde in ihrer ganzen Schlechtigkeit. Die Menschen können den Gerechten und Heiligen und sein Licht nicht ertragen (Joh. 3,19). Sie können es nicht ertragen, dass Jesus das Wohlgefallen Gottes besitzt, so neidisch sind sie (siehe auch 1. Mose 4,5). Auf grausamste Weise erwürgen die Menschen den Sohn Gottes, indem sie ihn auspeitschen und an ein Kreuz nageln. Und Jesus wehrt sich nicht: Er hat selber gelehrt, dass man dem Bösen nicht widerstehen soll (Matth. 5,39). Das Böse kann man nicht mit Gewalt besiegen, im Gegenteil. Das Böse wird besiegt, indem man sich nicht dagegen wehrt. 

 

Wieso aber hat Gott den Tod Jesu zugelassen? Hätte Er den Gerechten nicht bewahren und rechtfertigen müssen? Hätte Er nicht einschreiten müssen, damit dieses grosse Unrecht nicht geschieht? Gott hat es nicht getan. Er hat Jesus losgelassen, und den mörderischen Händen der Menschen übergeben (Joh. 3,16). Das Blut Jesu wird vergossen. Und vergossenes Blut muss eigentlich gerächt werden. Wird nun das Blut Jesu auch sinnbildlich zu Gott um Rache schreien, wie das Blut Abels (1. Mose 4,10, Hebr. 12,24)? 

 

Nein, Jesus vergibt. Er rechnet die Sünde nicht an (Luk. 23,34). Und weil Jesus der menschliche Stellvertreter Gottes ist, welchem Gott die Autorität verliehen hat, auf Erden Sünden zu vergeben (Matth. 9,6), ist es auch Gottes Vergebung, die den Menschen frei geschenkt wird (2. Kor. 5,19). Und jetzt kommt der springende Punkt: Wie wird nun die sündige Menschheit darauf reagieren? Sie hat den einzig gerechten Menschen, den Sohn Gottes, gekreuzigt. Aber Jesus vergibt es, und Gott vergibt es auch. Das impliziert den folgenden Gedanken: "Wenn Jesus den Menschen diese Schuld nicht anrechnet, dann wird er sie nie verdammen oder abweisen! Und das Gleiche muss folglich für Gott gelten!" (Röm. 5,8-10) Ist auf diese Weise ein Vertrauen auf Gottes Güte vielleicht wieder möglich, so wie es ursprünglich gedacht war? Kann das Verhalten Jesu seinen Feinden gegenüber deren versteinerte Herzen gewinnen? Ich meine: Ja. Wem Gott die Augen öffnet, sodass er diesen Beweis seiner Liebe sehen kann, der kann im echten und wirklichen Sinn zu Gott, dem Vater, umkehren. 

 

Helmut Gollwitzer schrieb: "… der Kreuzesgalgen, an dem der einzige Gott wohlgefällige Mensch stirbt, und das unbegreifliche Gnadenwort, das gerade von diesem Tode her dem ungefälligen Mordgeschlecht das Kindesrecht zuspricht und das Leben eröffnet." Gott vergibt uns nicht weil wir Jesus gekreuzigt haben, sondern obwohl wir an Jesus schuldig geworden sind. 

Kurz gesagt: Das Kreuz ist der Beweis, dass Gott seine Feinde liebt. 

 

In diesem Licht können wir nun verstehen, was Jesus mit dem Satz "Wer mich sieht, der sieht den Vater" (Joh. 14,9) gemeint hat. Johannes hat es selber an einer anderen Stelle so erklärt: "Niemand hat Gott je gesehen, der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoss ist, der hat es uns verkündigt" (Joh. 1,18). Anders ausgedrückt: Wenn man wissen will, wie Gott ist, muss man sich anschauen, wie Jesus ist. Jesus hat Gottes Wesen vollkommen ausgedrückt. Das ist gemeint, wenn man sagt, Jesus habe Gott offenbart.

Diejenigen Menschen, die von Gottes und Jesu Liebe überzeugt werden und Vertrauen fassen können, haben Frieden mit Gott. Durch Jesu Tod sind sie mit Gott versöhnt (Röm. 5,10). Die anderen, die in Misstrauen und Feindschaft verharren, bleiben in der Trennung von Gott, der Quelle des Lebens (Joh. 3,18). Aber Gott wird schlussendlich sein Ziel erreichen, nämlich alle Menschen zu retten, indem er ihre Herzen gewinnt. 

Wird es für Gläubige nun kein Endgericht mehr geben? Doch, es wird für alle Menschen ein Endgericht geben:  "... auf den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, welcher geben wird einem jeglichen nach seinen Werken..." (Röm. 2,5-6). Hier spricht Paulus von Gottes Zorn, welchen er in Röm. 5,9 wieder aufgreift. Dieser Zorn ist also noch zukünftig. (Man sollte sich Gottes Zorn allerdings nicht als göttlichen Wutausbruch vorstellen, sondern vielmehr als Gottes Vehemenz gegen das Böse.) Wie werden wir nun von diesem Zorn gerettet? Die Antwort ist Jesu Auferstehung, denn Jesus blieb nicht im Tod. Er wurde von Gott auferweckt, zu einem Leben, das gegen Sünde, Gesetz und Tod absolut immun ist. Vor seinem Tod konnte Jesus vom Satan versucht werden, nach seiner Auferstehung ist das nicht mehr möglich. Jesus lebte in Vollkommenheit und starb unter dem Gesetz, und durch seine Auferweckung ist er gegen die Macht von Sünde, Tod und Gesetz unangreifbar geworden. Gott hat sich damit einen neuen Menschen geschaffen, den Beginn der neuen Schöpfung (Kol. 1,15). Gott konnte aber nur einen Menschen gegen Sünde und Tod immunisieren, welcher diesen Status nicht missbrauchen würde, der nicht wie Gott sein wollte, und der Gott nicht misstraute. Diesen Test hatte Jesus durch seine Passion, also sein Leiden auf Golgatha, bestanden. Hier finden wir auch die Erklärung, warum Jesus fehlerfrei und schuldlos sein musste. Es ging um die Qualifikation für seine Auferstehung. Selbst in Erwartung der schlimmsten Qualen nannte er Gott im Garten Gethsemane "Abba", also "lieber Vater" (Mark. 14,36). Und er vertraute darauf, dass Gottes Wille gut für ihn war, auch wenn es das Kreuz bedeutete. Wo Adam gefehlt hatte, da hat Jesus überwunden. So hat Jesus den Sündenfall umgekehrt. Und es ist Jesus, welcher uns durch das Weltgericht helfen wird, und an dessen neuem Leben wir Anteil bekommen. Man kann sogar noch weiter gehen: So wie Sünde und Tod eine Art ansteckende Krankheit ist, so ist Jesu Auferstehungsleben und Gerechtigkeit eine Art ansteckende Gesundheit, welche sich in der gesamten Schöpfung ausbreiten und alles retten wird. 

 

Einige Bibelstellen

 

In diesem letzten Abschnitt möchte ich ein paar Schlüsselstellen in der Bibel betrachten und sehen, wie sie gemäss obigem Verständnis eingeordnet werden können. Aber zuerst eine Vorbemerkung: Wenn in der Bibel steht, dass Gott etwas "tut", dann kann dieses "tun" auch durch Menschenhände seine Erfüllung finden. Eine Formulierung wie "der Herr warf unser aller Sünde auf ihn" kann also auch bedeuten, dass dies gemäss der Vorherbestimmung Gottes durch die Hand von Menschen geschah. So heisst es in Apg. 4,27-28: "sie haben sich versammelt über deinen heiligen Knecht Jesus, welchen du gesalbt hast, Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und dem Volk Israel, zu tun, was deine Hand und dein Rat zuvor bedacht hat, dass es geschehen sollte."

 

Und noch eine weitere Vorbemerkung: Ich erlaube mir, Aussagen über das Blut Jesu und Blut im Allgemeinen auch bildlich zu verstehen. Ich glaube z.B. nicht, dass in Hebr. 12,24 gemeint ist, dass das Blut Abels und das Blut Jesu tatsächlich im wörtlichen Sinn "reden". Ich glaube auch nicht, dass das Blut Jesu irgend eine magische Wirkung in sich selber hat. Solche Interpretationen erinnern mich eher an heidnische Kulte, als an das Evangelium Gottes. 

 

Jes. 53,4-6: "Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in der Irre wie Schafe, ein jeglicher sah auf seinen Weg, aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn."

 

Ist es nicht interessant, dass es insbesondere die Anselm'sche Satisfaktionslehre ist, welche Jesus indirekt als "von Gott geschlagen und gemartert" hält? Nein, Jesus ist "um unserer Missetat willen verwundet". Das bedeutet einerseits, dass die Kreuzigung Jesu im wörtlichsten Sinne das Resultat von menschlichen Missetaten war: Ein Unschuldiger wurde aus Neid und Hass hingerichtet. Andererseits aber geschah Golgatha, um uns von der Sünde zu erretten, also "um unsrer Sünde willen". 

 

Die Formulierung "Die Strafe liegt auf ihm" ist eine schlechte Übersetzung, weil das Wort "Strafe" im Hebräischen gar nicht existiert. Wahr aber ist, dass Jesus gelitten hat, damit wir gesund werden können. Und schliesslich, dass "der Herr unser aller Sünde auf ihn warf" verstehe ich, wie schon erwähnt, gemäss Apg. 4,27-28. Es waren Menschenhände, welche Jesu Leiden verursacht haben. Es war unsere Sünde, unsere Missetat, welche Jesus traf, als er die Grausamkeit der Menschen erlitt, ohne sich zu wehren. 

 

Joh. 1,29: "Siehe, das Lamm Gottes, welches der Welt Sünde trägt!"

 

Man könnte auch übersetzen, "welches der Welt Sünde wegnimmt". Und genau das hat Jesus getan: Durch Golgatha kann er die Herzen der Menschen für Gott gewinnen, und so die Sünde, also das Misstrauen gegen Gott und die Rebellion gegen Ihn, wegnehmen.  

 

Röm. 3,25: "Welchen Gott hat vorgestellt zu einem Gnadenstuhl, durch den Glauben in seinem Blut, damit er die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, darbiete in dem, dass er Sünde vergibt, welche bisher geblieben war unter göttlicher Geduld."

 

Der "Gnadenstuhl" war im alten Testament die Deckplatte der Bundeslade im Allerheiligsten. Dort konnte der Mensch Gott begegnen. Im neuen Bund kann der Mensch Gott begegnen, wenn er in Christus ist. Die Formulierung "durch den Glauben" betont, dass es um das Vertrauen zu Gottes Güte und Vergebung geht. Die Worte "in seinem Blut" verweisen auf Jesu gewaltsamen Tod. 

 

Die Aussage "welche bisher geblieben war unter göttlicher Geduld" scheint auf den ersten Blick zu bedeuten, dass Gott im alten Bund nicht wirklich vergeben konnte, sondern dass dies erst durch das Opfer Jesu möglich war. Aber damit würde man dem Text mehr Bedeutung andichten, als er hergibt. Der Text sagt ganz einfach aus, dass Gott seinen Sohn Jesus Christus zum Ort der Vergebung und Versöhnung gemacht hat. Der Grund dafür ist Gottes Entscheidung, es bedeutet nicht, dass Gott bezüglich Zeit, Ort und Weise keine anderen Möglichkeiten gehabt hätte. 

Der Theologe Klaus Berger übersetzt Röm. 3,24-25 so: "Und wie werden alle gerecht? Dadurch, dass Gott gnädig etwas schenkt. Denn Jesus Christus hat die Menschen befreit. Wie und warum? / Den gewaltsamen Tod Jesu hat Gott als Anlass genommen, um Jesus Christus für alle und öffentlich zum Ort der Vergebung zu machen. So hat Gott bewiesen, dass er selbst gerecht ist, indem er die Sünden, die die Menschen vorher begangen hatten, nachsichtig vergeben hat. Diese Vergebung wird dem einzelnen dadurch zuteil, dass er an Jesus als ihren Vermittler glaubt." 

In seinem Kommentar zum Neuen Testament schreibt Klaus Berger zu Röm. 3,21-26, indem er sich eine Rede Gottes an die Menschen vorstellt: "Ihr Menschen habt gezeigt, wer ihr seid. Ihr bringt Menschen ans Kreuz und seid auch selbst die Gemobbten. Ihr habt gezeigt, wie arm ihr wirklich seid und wie sehr ihr es nötig habt, dass euch jemand in die Arme schliesst. Deshalb will auch ich jetzt zeigen, wer ich bin: Weil ihr das so offenkundig nötig habt, erkläre ich euch: Jetzt liebe ich euch erst recht. Nicht weil ihr es verdient hättet, sondern weil ihr so arm seid. Und ich liebe euch als meine Feinde..."

Röm. 8,3: "... und sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündlichen Fleisches und um der Sünde halben, und verdammte die Sünde im Fleisch, auf dass die Gerechtigkeit, vom Gesetz erfordert, in uns erfüllt würde, die wir nun nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist."

 

Gemäss der Anselm'schen Satisfaktionslehre müsste es heissen: "verdammte Jesus", aber es heisst "verdammte die Sünde".

 

Dass sich die Worte "verdammte die Sünde im Fleisch" auf den Kreuzestod Jesu beziehen, steht im Text nicht. Es kann sich auch auf das gesamte Leben, Wirken und Sterben Jesu beziehen, durch welches schliesslich in der Auferstehung die Sünde und der Tod für alle Menschen besiegt wurden. 

Klaus Berger übersetzt Röm. 8,3-4 so: "Solange das Gesetz allein einem schwachen Menschen gegenüberstand, spiegelte es nur dessen Schwachheit wider und konnte ihn nicht retten. Doch dadurch, dass Gott seinen Sohn als sterblichen Menschen gesandt hat, der uns Sündern ähnlich, aber doch kein Sünder ist, hat er die Sünde auf ihrem eigenen Feld, nämlich im Leib eines sterblichen Menschen, besiegt und verurteilt. / [Jesus ist Sohn Gottes durch den Heiligen Geist und gibt ihn an uns weiter.] Wenn wir in unserem Tun auf den Heiligen Geist bauen und nicht auf unsere eigene Schwäche starren, dann können wir das, was das Gesetz fordert, endlich wirklich tun."

 

2. Kor. 5,19: "Denn Gott war in Christo, und versöhnte die Welt mit ihm selber, und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu"

 

Gemäss der Anselm'schen Satisfaktionslehre müsste es heissen, "und rechnete ihre Sünden Jesus zu". Aber Gott hat die Sünde ohne Gegenleistung vergeben. Als menschlicher Stellvertreter Gottes hat Jesus die Sünden seiner Feinde vergeben, und damit die Welt wieder mit Gott versöhnt. 

 

2. Kor. 5,21: "Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt."

 

Natürlich wurde Jesus zu keinem Zeitpunkt zu einem Sünder, darum steht auch "zur Sünde gemacht" und nicht "zum Sünder gemacht". Genauso wenig glaube ich, dass Jesus in irgend einem Sinn in Sünde "verwandelt" wurde. Ich meine, dass dieser Vers als Rhetorik zu lesen ist, er ist nicht ontologisch gemeint. Jesus hat die Sünde der Welt weggenommen (Joh. 1,29, siehe oben). Man kann sich bildlich vorstellen, dass Jesus unsere Sünde genommen und durch seinen Tod beseitigt hat.  

Häufig hört man die Interpretation, dass Gott sich in seiner Heiligkeit von Jesus abwenden musste, als dieser starb, eben weil Jesus zur Sünde gemacht worden sei. Aber das würde direkt der Aussage zwei Verse früher widersprechen (2. Kor. 5,19): "Gott war in Christo..." Tatsächlich fühlte sich Jesus von Gott verlassen (Mark. 15,34), aber die Auferstehung beweist, dass Gott ihn gerade nicht verlassen hatte.  

Weiter zu Die Hoffnung der Auferstehung.

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